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KZ Sachsenhausen: Laufen bis zum Umfallen - Magazin - RNZ

KZ Sachsenhausen: Laufen bis zum Umfallen - Magazin - RNZ

KZ Sachsenhausen: Laufen bis zum Umfallen - Magazin - RNZ

Von Heiko P. Wacker

Das Konzentrationslager Sachsenhausen, rund 20 Kilometer nördlich von Berlin gelegen, wurde als Modell für andere Lager errichtet. Die Opposition sollte hier eingesperrt werden - aber auch die Ausbeutung der Häftlinge geplant und erprobt. In diesem Zusammenhang muss man die von der SS betriebene "Fälscherwerkstatt" erwähnen, in der jüdische Häftlinge britische Pfundnoten zu fälschen hatten - aber auch die "Schuhprüfstrecke".

Was sich so lapidar anhört, war ein perfides Folterinstrument der SS, wie die Historikerin Anne Sudrow erklärt. Als gelernte Schuhmacherin erkannte sie den Zweck der KZ-Schuhprüfstrecke, die selbst von manchen Häftlingen als reine SS-Schikane betrachtet worden war. Auf Basis ihrer Handwerksausbildung konnte Sudrow, deren Promotion zum Thema 2010 veröffentlicht wurde, die wahren Hintergründe der 700 Meter langen Teststrecke erkennen. "Auf dieser mussten die Häftlinge bis zu 48 Kilometer am Tag zurückzulegen. Das wäre an sich schon eine Tortur gewesen, und war es erst recht auf den unterschiedlichen Belägen der Strecke, auf der sich Split, Schotter, Lehm und Schlacke abwechselten. Kein Wunder, dass das Schuhläuferkommando unter den Häftlingen besonders gefürchtet war." Viele starben aus Erschöpfung oder durch Folter der SS-Wachmannschaften. Wer strauchelte, hatte weitere Schläge und Schikanen zu erwarten.

Anne Sudrow wurde vor einigen Jahren auf das Thema aufmerksam: Bei einem Besuch in Sachsenhausen sah sie auch die am originalen Standort teilrekonstruierte Teststrecke. Sie wunderte sich, dass dieses Themenfeld noch nicht näher untersucht war. Schließlich entstand daraus ihre Monografie "Der Schuh im Nationalsozialismus", das inzwischen in zweiter Auflage erschien. Für ein knapp 900 Seiten umfassendes Fachbuch ist das keine Selbstverständlichkeit. Es zeigt aber auch, dass sie hier ein relevantes Thema ans Licht gebracht hat. Das Werk zeichnet die Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich nach, und dringt damit tief in die Wirtschaftsgeschichte und die Bedeutung des Handelsguts "Schuh" ein.

Die Schuhprüfstrecke selbst behandelt sie vor allem im Hinblick auf die Gebrauchswertforschung - immerhin mach-ten sich mangelnde Ressourcen und die sich allgemein verschlechternde Versorgungslage im Dritten Reich auch an scheinbar banalen Alltagsgegenständen wie den Schuhen bemerkbar. "Die Bewirtschaftung der Schuhproduktion oder die Versuche, beispielsweise Lederfaserwerkstoffe oder Synthesekautschuk als Ersatzstoffe zu verwenden, sind Beispiele für diese Entwicklung." Erprobt werden mussten die direkt ins KZ gelieferten Werkstoffe und Schuhe von den Häftlingen, die allmorgendlich ein Paar zugeteilt bekamen.

Die deutsche Wirtschaft war eng mit der Gründung der Strecke verflochten. Gleichwohl mochte beispielsweise die heutige Salamander GmbH mit dem Verweis, dass das Unternehmen inzwischen mehrere Inhaberwechsel erlebt habe, kein Interview zum Thema geben, als eine ARD-Dokumentation entstand. Immerhin aber zeigte man sich betroffen. Anne Sudrow wiederum wundert sich über die selektive Wahrnehmung: "Einerseits bedient man sich der Marke und verwendet weiter den Firmennamen, aber mit anderen Teilen der Geschichte möchte man nichts zu tun haben."

Etwas offener gegenüber der eigenen Geschichte zeigt sich da die Weinheimer Firma Freudenberg. 1940 war die Carl Freudenberg AG sowohl an der Gründung wie auch dem Betrieb der Schuhprüfstätte beteiligt, ab 1944 wurden die Versuche sogar vom Firmensitz aus organisiert. Dies nimmt Anne Sudrow an, deren Forschungen inzwischen den Anstoß zu einer fachlichen Aufarbeitung der Firmengeschichte durch einen Historiker im Auftrag des Unternehmens Freudenberg gaben. Auch gegenüber der Rhein-Neckar-Zeitung mochte sich Freudenberg deshalb nicht erklären, abgesehen von einigen Einfügungen (siehe Kasten) - man möchte zunächst die Ergebnisse der gegenwärtigen Erforschung abwarten. Diese werden in den nächsten Tagen veröffentlicht.

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Nicht unterschlagen sei jedoch, dass zwei der Firmenerben immerhin als Privatpersonen über das Thema zu sprechen bereit waren, aber auch einen privat unter den Gesellschaftern gesammelten Fond von 120 000 Euro realisierten. Der Betrag wurde für die Arbeit der KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück gespendet, während fünf noch lebenden "Schuhläufern", von denen man heute weiß - es könnten durchaus noch andere in der Ukraine oder beispielsweise in Russland leben - jeweils ein Betrag 5000 Euro zuging.

Einer der Überlebenden, Joop Snep, wohnt heute in einem Amsterdamer Altenheim. Nach der Besetzung Hollands durch die Wehrmacht verhalf er gemeinsam mit seinem Vater Juden zur Flucht. Beide wurden jedoch verraten, und landeten umgehend im Schuhläuferkommando. Beliebig konnten die SS-Wachleute dort das Tempo anziehen, wobei zudem noch Lieder zu singen und der Gleichschritt einzuhalten waren. Als zusätzliches Element der Erniedrigung kamen ab 1943 noch mit Sand und Steinen gefüllte Rucksäcke ins Spiel.

"Das Schlimmste war die große Angst, nicht zu überleben", erinnert sich der ehemalige Häftling Joop Snep, der bei der Befreiung des KZ Anfang 20 war, und sich ab sechs Uhr morgens mit vielen anderen über die diversen Kilometer quälen musste. "Das waren mal Turnschuhe, mal Stiefel oder auch Holzschuhe. Was einem zugeteilt wurde, musste man tragen", berichtet der 93-Jährige. Die Schuhe mussten zum Teil bis zum völligen Verschleiß abgelaufen werden.

Besonders perfide mutet hierbei an, wie wenig der Mensch dabei galt: "Die Testpersonen wurden für die Versuche gesundheitlich zu Grunde gerichtet und durch sie oder während ihres Verlaufs reihenweise ermordet. Sie wurden als menschliche Prüfinstrumente benutzt, an denen nur noch der physiologische Bewegungsablauf ihrer Füße beim Gehen interessant war", schreibt Anne Sudrow.

Entsprechend war auch Joop Snep bis vor kurzem davon überzeugt, dass das Schuhläuferkommando ein reines Strafkommando gewesen sei, reine Schikane. Um die wirklichen Hintergründe weiß er erst seit Anne Sudrows Recherchen, die letzten Endes auch zu einem Treffen mit Dorothee Freudenberg führten, die sich 2013 mit Joop Snep traf, und beeindruckt war von der Herzlichkeit, mit der sie vom ehemaligen Häftling empfangen wurde. "Herr Snep hat uns deutlich gemacht, wie viel es ihm bedeutet, dass endlich jemand gekommen ist", wird Dorothee Freudenberg zitiert.

Anne Sudrow wiederum ist heute am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam tätig - und ist immer noch erstaunt, dass die Firmen diese Geschichte siebzig Jahre lang verheimlichen konnten, und sich auch jetzt oft nicht ihrer Verantwortung stellen. Immerhin konnte sie nachweisen, dass ein Großteil der Schuhindustrie und ihrer Kunststoff- und Klebstoffzulieferer billige Tests im KZ durchführen ließ. Dabei handelt es sich eben auch um Firmen, die heute noch am Markt erfolgreich sind.

Interessant ist auch die Tatsache, dass die im KZ durchgeführten Passform-Versuche, die für einen neuen Wehrmachtstiefel unternommen wurden - das damalige Unternehmen Fagus GmbH, ein Leistenhersteller, nutzte die Anlage von Juli bis November 1944, und lieferte die zu testenden Leisten direkt ins KZ, wobei der damalige Inhaber auch persönlich ins Lager kam - einige Jahre später mit in die ersten Marschstiefel der Bundeswehr eingeflossen sein könnten. "Falls dies zutrifft, so fanden selbst die Passform-Versuche auf der "Schuhprüfstrecke" noch eine Verwendung in der Nachkriegszeit", schreibt Anne Sudrow, und verweist auf mögliche Themen künftiger Forschung. Die Akten zur Bestiefelung der frühen Bundeswehr sind noch unerschlossen. Ganz sicherlich verbergen sich auch hier noch "lohnende" Felder für ernsthaft betriebene, seriöse Geschichtsforschung.

Info: Hintergrundinformationen bietet Anne Sudrow in ihrer Monografie "Der Schuh im Nationalsozialismus ..." Wallstein Verlag Göttingen.

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