Hart erkämpft waren die Frauenrechte nach der letzten Schreckensherrschaft der Taliban. Zwischen 2001 und heute strebten afghanische Frauen immer mehr nach Freiheit und Gleichheit gegenüber Männern. Zwar mussten männliche Familienmitglieder viele dieser Freiheiten erlauben, doch durften Frauen genauso wie Männer zur Schule gehen, studieren und einen Beruf ausüben. Die Vollverschleierung fiel weg. Doch sämtliche Frauenrechte, die mitunter mit Hilfe der US-geführten Streitkräfte, die Afghanistan nun verlassen, errungen wurden, dürften nun wieder rückgängig gemacht werden.
Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban. Das Zeigen unverschleierter Frauen ist im Sinne der radikalen Islamisten strengstens verboten.
Die Taliban-Führer versicherten zwar in Gesprächen mit westlichen Regierungen, die in diesem Monat in Doha gescheitert waren, dass Frauen weiterhin die gleichen Rechte gemäß der Scharia haben werden, einschließlich der Möglichkeit, zu arbeiten und eine Ausbildung zu absolvieren. In Städten, die von Taliban-Aufständischen überrannt wurden, verlieren Frauen jedoch ihre Arbeitsplätze. „Ich warte hier, bis sie kommen. Es ist niemand hier, der mir oder meiner Familie helfen kann. Sie kommen. Sie kommen wegen Leuten wie mir, um mich zu töten“, sagte etwa die erste afghanische Bürgermeisterin, Zarifa Ghafari, Berichten auf Twitter zufolge.
Etliche berufstätige Frauen und solche, die es bis vor Kurzem noch waren, sorgen laut Medienberichten dafür, ihre Spuren in der Berufswelt zu verwischen, um sich vor Gewalt der Taliban zu schützen. Afghanische Journalistinnen berichteten dem „Guardian“ darüber, dass Mädchen in den Provinzen schon von den Taliban entführt und versklavt worden seien. Religiöse Führer sollen die Anweisung erhalten haben, den Taliban eine Liste von Mädchen über 15 und Witwen unter 45 Jahren zur Verheiratung mit Taliban-Kämpfern zu übermitteln.
Die österreichische Politikwissenschaftlerin und Afghanistan-Expertin Petra Ramsauer warnte vor einem Wiederkehren vergangen geglaubter Zeiten: „Es gibt jetzt bereits erste, konkrete Vorschläge: Es wird ein Verbot von Abtreibungen geben, Frauen werden aus ihren Jobs gedrängt, es werden auch Impfungen verboten – eine Katastrophe in Afghanistan mit sehr hohen Covid-Zahlen“, so Ramsauer in der ZIB2 am Sonntag. „Es wird ein Land sein, das sich quasi an Gesetzen orientiert, die aus dem 7. Jahrhundert stammen.“
Noch im August letzten Jahres bekundete Präsident Ghani die Absicht, vor den geplanten Friedensgesprächen mit den Taliban einen Hohen Rat für Frauen zu schaffen – mit 26 Vertreterinnen und Vertretern gesellschaftlicher Gruppen, die sich für Frauenrechte einsetzen, darunter Menschenrechts-NGOs, Aktivistinnen und Aktivisten sowie Politikerinnen und Politikern. Von diesem Vorhaben scheint nach der Flucht des Präsidenten ins Exil keine Spur mehr.
Expertinnen und Experten befürchten jetzt unter den Taliban gar ein Wiederaufleben der brutalsten Form der Unterdrückung von Frauen, wie sie in Afghanistan zwischen 1996 und 2001 an der Tagesordnung waren. „Mit jeder Stadt, die zusammenbricht, brechen menschliche Körper zusammen, brechen Träume zusammen, brechen Geschichte und Zukunft zusammen, brechen Kunst und Kultur zusammen, brechen Leben und Schönheit zusammen, bricht unsere Welt zusammen“, schrieb etwa die afghanische Fotografin Rada Akbar auf Twitter.
Das erklärte Ziel der Taliban ist es – so weiß man aus Zeiten des Islamischen Emirats Afghanistan (1996–2001) – nach der Scharia, der strengen Auslegung des islamischen Rechts, zu leben. Der Terrormiliz zufolge soll ein Umfeld für Frauen geschaffen werden, in dem sie ohne Selbstbestimmung völlig zurückgezogen leben müssen.
Während der Herrschaft des Islamischen Emirats durften Frauen prinzipiell nicht das Haus verlassen, und wenn, dann nur in Burka und mit einem männlichen Familienmitglied. Bevor die Taliban das letzte Mal vor 20 Jahren aus Kabul verdrängt wurden, war es Frauen außerdem verboten, zu arbeiten und ab dem Alter von acht Jahren unterrichtet zu werden. Unter Unterricht verstehen die Taliban vorwiegend das Studieren des Korans.
Das hatte zur Folge, dass sich Schulen für Frauen im Untergrund bildeten. Dort riskierten Schülerinnen sowie Lehrende die Todesstrafe. Frauen war es noch nicht einmal gestattet, ohne einen männlichen Begleiter einen Arzt aufzusuchen, was dazu führte, dass viele Krankheiten unbehandelt blieben. Ab dem Alter von acht Jahren war es Frauen überhaupt untersagt, mit Männern in direktem Kontakt zu stehen, die nicht mit ihnen blutsverwandt oder angeheiratet sind. Da es durch den Krieg allein in Kabul ungefähr 30.000 Witwen gab, waren diese völlig auf sich allein gestellt. Vielen blieb nichts anderes übrig, als zu betteln.
Frauen sollten noch nicht einmal Schuhe mit höherem Absatz tragen, damit kein Mann ihre Schritte hören und dadurch erregt werden könnte. Auch sprechen durften Frauen im Islamischen Emirat Afghanistan auf der Straße nicht, da kein Fremder die Stimme einer Frau hören sollte. Alle Fenster zur Straße hin sollten zugemalt werden, um zu vermeiden, dass Frauen in ihren Wohnungen von der Straße aus gesehen werden könnten. Farbenfrohe Kleidung und Nagellack galten als Sünde.
Bei dem kleinsten Verstoß drohte spontane öffentliche Misshandlung durch Ordnungshüter. Im schlimmsten Fall waren Auspeitschungen, Folter und Hinrichtungen die Folge. Diese wurden häufig als Spektakel in Sportstadien und auf Marktplätzen inszeniert. Bilder von damals erlangten überall auf der Welt Bekanntheit. Ein Foto von Jodi Bieber, das eine Frau zeigt, der die Taliban die Nase abgeschnitten hatten, wurde etwa 2010 zum weltbekannten World Press Photo gewählt.
Marianne O’Grady, stellvertretende Landesdirektorin von Care International in Kabul, glaubt unterdessen nicht, dass sich die Geschichte wiederholt. Die Errungenschaften der Frauen in den letzten zwei Jahrzehnten könnten ihr zufolge nur schwer wieder zunichte gemacht werden, selbst wenn die Taliban die Macht übernehmen. „Man kann nicht Millionen von Menschen ungebildet machen“, sagte sie gegenüber AP. Auch wenn die Frauen „wieder hinter Mauern sitzen und nicht mehr so viel ausgehen können, so können sie doch zumindest ihre Cousins und Cousinen, ihre Nachbarn und ihre eigenen Kinder in einer Weise unterrichten, die vor 25 Jahren noch nicht möglich war“.
Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten rufen die internationale Gemeinschaft auf den Plan. Vorschläge sind in erster Linie, Luftbrücken einzurichten, um Zivilpersonen aus Afghanistan auszufliegen und in Sicherheit zu bringen. „Ausländische Regierungen müssen alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die sichere Ausreise aus Afghanistan für alle Personen zu gewährleisten, die Gefahr laufen, ins Visier der Taliban zu geraten“, forderte Agnes Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. Die USA sollten trotz ihres Truppenrückzugs dafür weiterhin die Flughäfen sichern, so Callamard.
„Zu diesen Maßnahmen zählen die Beschleunigung der Visaerteilung, die Unterstützung bei der Evakuierung vom Flughafen Kabul, Relocation- und Resettlement-Maßnahmen sowie die Aussetzung aller Abschiebungen und Zwangsrückführungen“, sagte die Amnesty-Generalsekretärin. Länder wie beispielsweise Deutschland, Großbritannien, die USA und Kanada diskutierten bis zuletzt über mögliche Evakuierungen von Zivilpersonen. Österreich schließt das aus. „Grundsätzlich sind wir der Meinung, dass schutzbedürftige Personen möglichst nahe an ihrer Heimat versorgt werden sollten. Die individuelle Prüfung von Fällen auf Basis der bestehenden Rechtslage fällt in die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Inneres“, hieß es auf ORF.at-Anfrage am Montag aus dem Außenministerium.
Die SPÖ-Frauen fordern allerdings einen aktiven Einsatz Österreichs. „Statt von Abschiebungen zu fantasieren, muss sich die österreichische Regierung innerhalb der EU dafür einsetzen, dass für exponierte Frauen eine sichere Ausreise sowie humanitärer Schutz gewährleistet wird“, so Evelyn Regner, SPÖ-EU-Abgeordnete. „Ministerin (Karoline) Edtstadler (ÖVP, Anm.) hat als Europaministerin und Frauenministerin die Verpflichtung, die westlichen Bündnispartner*innen ins Boot zu holen und die Frauen zu retten“, so die SPÖ-Abgeordneten in einer Aussendung.
Viele Frauen entschieden sich zumindest bis zuletzt noch notgedrungen für die Flucht vor den Taliban. Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) sind seit Ende Mai fast 250.000 Afghaninnen und Afghanen aus ihren Häusern geflohen, 80 Prozent von ihnen Frauen und Kinder. Seit Anfang 2021 ist die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung in Afghanistan um fast 50 Prozent gestiegen.
Laut einem Bericht der UNO vom Juli wurden in Afghanistan mehr Frauen und Kinder getötet und verwundet als in den ersten sechs Monaten eines jeden Jahres seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die afghanische Regierung, bis zur Flucht von Präsident Ashraf Ghani noch im Amt, machte für die meisten gezielten Tötungen die Taliban verantwortlich, die jedoch bestreiten, Attentate zu verüben.