Eine gelbe Plastikwanne mit zwei Henkelgriffen steht mitten im Gerichtssaal auf dem Fußboden. Manche benutzen solche Plastikwannen als Wäschekorb, andere baden ihre Babys darin. Hier aber, im Saal 8 des Landgerichts Potsdam, steht diese gelbe Plastikwanne den ganzen Tag über einfach nur da. Wie ein stummes Mahnmal des Grauens.
In der gelben Plastikwanne soll Silvio S. über Wochen die kleine Leiche des vierjährigen Mohamed gelagert haben. Bedeckt mit Katzenstreu, gegen den Verwesungsgeruch. An einer Seite der Wanne kleben noch Blutspuren.
Staatsanwalt Peter Petersen hat nicht nur die gelbe Plastikwanne, sondern ein ganzes Arsenal des Schreckens ausbreiten lassen, Gegenstände, die am Tag der Festnahme von Silvio S. in dessen weißem Dacia und in seinen Hosentaschen gefunden wurden und ihm offenbar als Tatwerkzeuge dienten: eine schwarze Totenschädelmaske, Handschellen, eine Kinderpuppe, ein Vaginal-Speculum, ein Fläschchen Chloroform, eine Packung Schlaftabletten, Kabelbinder, Knebel, eine Daumenfessel, ein Elektroschocker, ein Mundschutz, ein Mundspreizer, Strangulationswerkzeug und eine Kunststoffmanschette für den Hals ("stiffneck"), mit der sich ein Kopf fixieren lässt . Viele dieser Gegenstände steckten, als die Ermittler sie fanden, in einem Stoffbeutel mit der Aufschrift "Fly Turkey" – flieg in die Türkei.
"Die Spuren sind gesichert, können sie alles anfassen", meint Petersen. "Würd' ich aber nich' empfehlen. Schon aus hygienischen Gründen nich'." Petersen selbst bevorzugt Einmalhandschuhe, die er routiniert mit einem kurzen Luftstoß aufbläst, um leichter mit der Hand hineingleiten zu können.
Das eigentliche Corpus Delicti ist ein schwarzer Ledergürtel mit Schnalle und silbernen Nieten. Mit diesem Gürtel soll Silvio S. Mohamed erdrosselt haben, als der sich gegen den sexuellen Missbrauch wehrte und völlig verängstigt nach seiner Mutter schrie. Also zu "maulen" oder zu "quengeln" begann, wie der Angeklagte gesagt haben soll. Kurz bevor er das Kind umbrachte, fütterte es noch mit Brot. Und machte mit seinem Smartphone einen Film davon.
Der Ledergürtel wird betrachtet, betastet, ausgemessen und fotografiert, vom Richter, von den Anwälten, von den Gerichtsmedizinern. Natürlich auch, um ihn mit möglichen Strangulationsmerkmalen abzugleichen. Aber auch, weil man vielleicht glaubt, man könne man so den Schrecken, der sich mit ihm verbindet, buchstäblich zu fassen kriegen.
"Wollen Sie sich das auch mal angucken, Herr S.?", fragt Richter Theodor Horstkötter den Angeklagten. Der blickt kurz auf und schüttelt stumm den Kopf. Dann versinkt er wieder in die Schutzhaltung, die er die ganzen letzten Prozesstage eingenommen hat: Die Hände zusammengefaltet vor sich auf dem Pult abgelegt, den Blick nach unten gerichtet. Nur ab und zu blinzelt er hoch mit den Augen und duckt sich dann noch tiefer, als warte er auf den nächsten Schlag.
Polizeibeamte schildern den Tag der Festnahme. Die Mutter hatte Silvio S. beim Frühstück in der Zeitung auf einem Bild aus einer Überwachungskamera erkannt und die Polizei gerufen. Ihr Sohn, wie er mit dem kleinen Mohamed, der seit Wochen gesucht wurde, das Gelände des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) verlässt.
"Ich sagte zu ihm: 'Herr S., wir müssen uns unterhalten'", erinnert sich der Beamte, der zuerst in dem grauen Haus im brandenburgischen Dörfchen Kaltenborn war, in dem Silvio S. mit seinen Eltern wohnte. "Seine Augen wurden tellergroß, er war stocksteif."
"Wo ist der Junge? Geht's ihm gut? Ist er bei Dir?", fragte der Polizist.
Silvio S. antwortete: "Ich denke, es wäre vielleicht besser, mit einem Anwalt zu reden."
Verstärkung traf ein, es wimmelte jetzt vor Polizei, im Haus, vor dem Haus.
"Sag’ uns wenigstens, wo Mohamed ist!", bohrte der Beamte weiter.
"Schaut mal im Auto nach", antwortete Silvio S. Als die Polizisten den Kofferraum öffneten, sahen sie die gelbe Plastikwanne. Aus dem Katzenstreu lugte ein Oberschenkel oder ein Ärmchen hervor, es war nicht genau zu erkennen. Jedenfalls war der Körper kalt.
"Tut mir leid, ich muss Ihren Sohn jetzt hier festnehmen", sagte der Beamte zur Mutter.
"Wie wirkte der Angeklagte auf Sie?", will der Richter jetzt wissen. "Sehr ruhig, sehr gefasst", sagt der Beamte. "Er wirkte auf 'ne gewisse Art und Weise genervt, dass wir da waren. So wie, wenn ein Werbevertreter bei ihm vor der Tür steht und ihm einen Staubsauger verkaufen will."
Auf der Fahrt zum Polizeirevier nach Luckenwalde musste Silvio S. die Beamten lotsen, weil deren Navigationsgerät nicht richtig funktionierte. Immer wieder schaute er auf seine Armbanduhr: Er müsse unbedingt seinen Chef bei einer Wachschutzfirma in Teltow anrufen. Denn so wie es aussehe, werde er ja heute wohl nicht pünktlich zur Arbeit kommen werde.
"Wie ist der Kleine zu Tode gekommen? War es ein Unfall?", fragten die Beamten.
"Ich wünscht, es wäre einer gewesen", sagte Silvio S. "Aber es war keiner."
"Warum hast Du ihn umgebracht?", wollten die Beamten wissen.
Mohamed habe zu quengeln und zu jammern angefangen, deshalb habe er ihn umgebracht, erzählte Silvio S.. Und dann, wie zur Beruhigung: Der Kleine habe aber nicht mehr viel leiden müssen. Es sei alles sehr schnell gegangen.
"Womit hast Du ihn getötet?", fragten die Beamten.
"Den Gegenstand hattet Ihr schon in der Hand", sagte Silvio S. und wies auf den schwarzen Ledergürtel, den man ihm abgenommen hatte und der jetzt im Streifenwagen im Fußraum vor dem Beifahrersitz lag.
"So ein Fall, der bundesweit Aufsehen erregt hat, das soll in einem kleinen Ort im beschaulichen Brandenburg passiert sein? Das erschien uns surreal", erinnert sich einer der Polizisten, die bei der Festnahme beteiligt waren. Und, dass der Vater von Silvio S. in seinem Sessel saß, als die Polizei erschien, und sagte: "So viel Polizei, was wollt Ihr denn hier? Ist das überhaupt nötig?" Und, dass die Mutter erwiderte: "Na ja, is' ja nich' gerade 'ne Ordnungswidrigkeit." Und, dass der Vater die Beamten weiter beschimpfte. "Jetzt saut Ihr mir mit Euren dreckigen Botten den ganzen Teppich ein!"
Ja, es ist alles surreal, auch dieser Gerichtsprozess ist surreal. Alle starren auf die ausgebreiteten Asservate, starren auf den schmächtigen Mann, der da im grauen T-Shirt auf der Anklagebank kauert. Starren und starren und sind fassungslos, auch jetzt noch, nach sechs von 12 Verhandlungstagen. Wie profan und alltags-normal das Böse daherkommt. In einer Tüte von "Jahn Reisen" oder einem Stoffbeutel, auf dem "Fly Turkey" steht.
Ein Kriminaltechniker, der die Leiche des kleinen Elias ausgrub, den Silvio S. ebenfalls umgebracht haben soll, sagt: "Man hat wohl wenig Zeit gehabt" – und meint damit den Täter, der die Leiche sehr hektisch verbuddelt haben muss.
Es ist alles so trostlos. So hoffnungslos und heillos. Wie ein böser Traum, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Am Ende sagt noch der Besitzer einer Videothek in Jüterbog aus, bei dem Silvio S. regelmäßig Kunde war, um sich Hardcore- und Sado-Maso-Pornos auszuleihen. "Er hat sich den schärfsten Scheiß ausgeliehen, den ich hatte", sagt der Videothek-Besitzer. "Das Schlimmste, was man sich legal ausleihen kann." Die Filme hießen: "Extreme Blow Jobs No. 15", "Nackt gefesselt und benutzt" oder "Mein Freund fickt auch Männer."
Das letzte mal taucht Silvio S. am 18.10.2015 bei ihm auf, gut zwei Wochen nach dem Mord an Mohamed und elf Tage vor seiner Festnahme. Um 18.47 Uhr leiht er fünf Filme aus. Im Fernsehen laufen Nachrichten, es wird berichtet, dass die Polizei immer noch fieberhaft nach Mohamed sucht, es wird das Bild aus einer Überwachungskamera eingeblendet, auf dem Silvio S. zu sehen ist, wie er den kleinen Jungen mit einem großen Teddy in der Hand weglockt. Der Besitzer der Videothek steht in diesem Augenblick mit dem Rücken zum Fernseher. Deshalb bemerkt er nicht, dass der dringend gesuchte Mann direkt vor ihm steht.
Er sagt zu Silvio S.: "Das ist ein ganz schönes Ding, dass so was passiert."
Der antwortet völlig ungerührt: "Stimmt, das ist schlimm. Wer so was macht, den müsste man eigentlich um die Ecke bringen."