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Kritik: Dürrenmatt am Zürcher Schauspielhaus - So geht Klassikertheater

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Kritik: Dürrenmatt am Zürcher Schauspielhaus - So geht Klassikertheater

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Kritik: Dürrenmatt am Schauspielhaus – So geht Klassikertheater

Zu Dürrenmatts Hundertstem lässt Regisseur Nicolas Stemann «Der Besuch der alten Dame» in den Pfauen singen und sprechen. Hingehen!

Alexandra Kedves

Ding Dong! Und Patrycia Ziolkowska saust los, um das nächste Paket in Empfang zu nehmen. Ding Dong! Jetzt trägt Sebastian Rudolph eine weitere Schachtel auf die Pfauenbühne. Packpapier, Kartons und Schuhe, Schuhe, Schuhe müllen die Bühne voll. Gelbe Schuhe, manche auch so geldbesoffen golden wie unser Corona-Zertifikatsbändel am Arm. Die Videoprojektion zeigt Paketberge, überquellende Amazon-Lager in pandemischer Zeit.

«Konjunktur für eine Leiche», konstatiert die alte Dame trocken, diese dürrenmattsche Bestie des kapitalistischen Konsumrauschs – chorisch gesprochen von Ziolkowska und Rudolph. «Wer nicht blechen kann, muss hinhalten, will er mittanzen. Und ihr wollt mittanzen!» Wer will das nicht? «Givin’ it up for this, Yeah» singt dazu die kanadisch-schweizerische Elektro-Performerin Camilla Sparksss: Sie ist das musikalische, kalte, kräftig schlagende Herz dieser Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame».

Das Trio aus zwei Schauspielenden und einer Musikerin liefert uns die Jubiläumsproduktion – Dürrenmatt wäre heuer hundert geworden, sein Paradestück wurde 65 – eingepackt in eine schwarze Box (Bühne und Video: Claudia Lehmann). Ding Dong! Wir nehmen das Paket entgegen, ach was, wir stürzen uns drauf, reissen es auf, greifen gierig nach diesen Sätzen – die, so kommt es uns vor, nie besser gesprochen, nie aufregender gedreht, sorgfältiger gewogen wurden. Die nie trefflicher zu Treffern umfunktioniert wurden in einer Gegenwart, die andere Sollbruchstellen kennt als jene von 1956.

Projektionen von versifften Meeren, brennenden Wäldern, demonstrierenden Frauen veranschaulichen den Subtext dieser Inszenierung. Und der Text? Was kann, darf, soll man von dem x-fach abgenudelten Bühnenschlager noch mitnehmen?, hat sich Nicolas Stemann wohl gefragt, der Regisseur und Co-Intendant des Schauspielhauses Zürich, der die Chose ursprünglich auf den Tag der Uraufführung hatte legen wollen (Corona funkte dazwischen). Stemann realisierte: so ziemlich alles. Aber anders.

Kritik: Dürrenmatt am Zürcher Schauspielhaus - So geht Klassikertheater

Er strich eher wenig Text, jedoch viele Schauspieler. Er gestattete (sich) unverblümte gesellschaftskritische Spitzen, aber auch witzige Pointen, Spuck- und Kotzorgien, spielerische Standards wie die kastrierten falschen Zeugen Koby und Loby, Stimmen aus dem Off, auf der Bühne, im Parkett. Audiovisuelle Kurzweil. Entertainment.

Dabei bleibt sie erkennbar, die Skandalstory von der 62-Jährigen, die in die Stadt Güllen zurückkehrt, um blutige Rache dafür zu nehmen, dass ihr Geliebter sie vor 45 Jahren schwanger und mittellos im Stich liess; in die Gosse zwang. Die Geschichte wird gar angeschärft, schneidet sich rein in unsere Bequemlichkeiten und faulen Alltagsausreden, ganz ohne dass ein Regietheaterberserker das Originaldrama verhackstückt hätte.

Die Ankunft der Multimilliardärin im heruntergekommenen Provinznest beispielsweise wird gleich mehrfach durchgespielt, derweil der Videotitel den ersten Akt ankündigt: Man macht hier ja nicht auf Illusionstheater. Mal gibt die 42-jährige deutsche Schauspielerin die weit gereiste Lady, erst im scheinbar sanften Erinnerungsmodus, dann grotesk aufgeraut, endlich verletzt und wuterfüllt. Mal übernimmt der zehn Jahre ältere Rudolph die Rolle, der sich schon zu Marthaler-Zeiten als Fixstern in den Zürcher Theaterkosmos hineingestrahlt hat. Keiner kann selbst schnoddrig so seriös wie er!

Da stehen die beiden anfangs traulich nebeneinander in ihren weiten, dunklen Culottes und den weissen Oberteilen: androgyne Zwillinge, multifunktional einsetzbare Folien für die fast vierzig Rollen. Und doch so individuell, wie es nur Schauspieler sind, die auch einen «Faust»-Marathon stemmen könnten – und vor zehn Jahren in Stemanns Regie gestemmt haben.

Hartes Happy End

Nach fast zweieinhalb Stunden «Besuch» – in denen wir uns vom Altbekannten tatsächlich aufs Neue schocken liessen, in denen wir auch gelacht und nur ganz, ganz selten verstohlen auf die Uhr geschaut haben – rollte die gnadenlose Tragikomödie in ihr hartes Happy End ein. Alfred Ill, der treulose Geliebte, ist tot, ermordet von seinen korrumpierbaren Mitbürgern, denen die alte Dame dafür eine Milliarde versprach. «Zauberhexchen», die aus Prothesen zusammengeflickte Greisin, ist mit dem Sarg triumphal abgereist, the witch is very much alive! Und in Güllen geht die grosse Party ab.

Dann stehen Ziolkowska und Rudolph wieder da, lächeln einander vertraut an; in ihrer zarten Umarmung steckt, ja, Vergebung? Das resignierte Wissen um die zerstörerische menschliche Schwäche? Die zwei verschwinden. Aber die Schuld bleibt. «Eine Schuld, eine offene Rechnung, ein begangenes Unrecht», hatten zwischendurch die Videotitel geschrien. «Das Verlangen nach Wiedergutmachung, Gerechtigkeit, Notbremse».

Subtil ist anders, doch kryptischen Kram braucht es nicht in dem hochmoralischen Drama mit den unauflösbaren Aporien, in dem irgendwie alle Täter und Opfer zugleich sind. Besonders in dieser postpostmodernen Version von Stemann. Im Finale reisst Sparksss den Mund auf zur stummen Klage – über Kolonialismus und Klimasünden, Patriarchat und #MeToo-Strukturen, die Ungerechtigkeit von allem. Die alten Damen fallen in unsere Städte ein, unsere Nemesis klingelt an der Tür: Ding Dong! Und ich schäme mich für den Autoschlüssel, der in meiner Hosentasche zu brennen scheint.

Alexandra Kedves arbeitet als Kulturredaktorin im Ressort Leben. Sie schreibt schwerpunktmässig über Theater sowie über gesellschafts- und bildungspolitische Themen. Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Konstanz, Oxford und Freiburg i Br.

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