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Afghan Diary: In Afghanistan spricht niemand über Corona – es tobt der Kampf gegen den Hungertod

Afghan Diary: In Afghanistan spricht niemand über Corona – es tobt der Kampf gegen den Hungertod

Afghan Diary: In Afghanistan spricht niemand über Corona – es tobt der Kampf gegen den Hungertod

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Afghanistan schlittert immer tiefer in eine humanitäre Katastrophe. Die Not der Menschen ist unvorstellbar. Korrespondentin Natalie Amiri schildert aus erster Hand eine grausamer Realität.

Kabul – Ich möchte dieses letzten Kapitel des Afghan Diary mit einem Brief beginnen, eine junge Frau schrieb ihn mir, bevor ich die Reise nach Afghanistan antrat:

Liebe Natalie, Du fragst mich, wie es mir geht, nachdem die Taliban mein Land erobert haben. Mir kommt nur eins in den Sinn: Dass Afghanistan im Moment alles verloren hat. Afghanistan hatte Ordnung und System, Beziehungen mit anderen Ländern, sprich internationale Beziehungen. Afghanistan war Tag für Tag auf dem Weg der Weiterentwicklung, im Moment ist aber alles verloren. Nichts gibt es im Moment in meinem Land: keine Redefreiheit, keine Demokratie, keine Menschenrechte, keinen Respekt, kein Leben.

Es gibt zurzeit rein gar nichts mehr in Afghanistan. Die Wirtschaft ist ruiniert. Das Leben der Menschen ist so schwierig geworden. Kein Mensch hat mehr Hoffnung. Es gibt keine einzige Nachricht, die Hoffnung bei Afghaninnen und Afghanen erwecken könnte. Ich lese viele Nachrichten, in denen ich ständig höre, dass sich jemand das Leben genommen hat. Die Zukunft ist unklar. Alles ist verschwommen und undeutlich. Das Geschäftsleben steht still, das Leben steht still, Menschen lachen nicht mehr, niemand weiß, wie es morgen weitergeht. Man weiß nicht einmal, wie es in der nächsten Stunde aussieht.

Mit dieser Situation sind die Menschen in Afghanistan konfrontiert. Wir müssen alles opfern. In weit entlegenen Dörfern haben sie ein noch düstereres Leben. Aber auch in den Städten haben die Menschen ihre Arbeit und damit ihr Einkommen verloren. Seit vier Monaten werden Gehälter nicht mehr bezahlt, viele haben inzwischen nicht einmal mehr Brot zum Essen. Früher konnte man andere unterstützen, jetzt sind wir alle in einer Situation, in der wir niemandem mehr helfen können. Man hat Angst zu helfen und denkt: „Wenn ich jemandem die 5 Afghani gebe, die ich habe, muss ich morgen vielleicht selbst hungern“. Das ist jetzt unser Alltag.

Eine Freundin von mir, die die einzige Tochter der Familie ist und die Familie – so wie ich auch – finanziell unterstützt, hat ihren gesamten Goldschmuck verkauft und mit dem Erlös Mehl und Brot gekauft. Was soll sie aber nächsten Monat machen? Fast alle Frauen haben ihre Arbeit verloren, sie dürfen mit der Ausbildung nicht weiter machen. Auch Männern wurden viele Freiheiten genommen. Generell haben die Menschen hier nun keine Freiheiten mehr. Unsere Freiheiten sind zunichtegemacht worden. Wir müssen versteckt leben und dürfen unsere Stimme nicht erheben. Wenn wir sie erheben, riskieren wir unsere Leben.

Kein Mensch hat den Mut, über diese ganzen Ungerechtigkeiten zu sprechen und laut zu sagen, dass dies alles ungerecht ist. Diejenigen, die in der neuen Regierung Posten bekleiden, sind weder professionell noch sind sie Experten. Die Verantwortung in allen Ämtern und staatlichen Organen ist nun Menschen überlassen, die von den Aufgaben keine Ahnung haben. Viele sagen, es herrsche seit einigen Tagen eine größere Sicherheit auf afghanischen Straßen. Was ist das denn für eine Sicherheit, wenn Menschen nicht frei reden dürfen, frei rumlaufen, frei die Wohnung verlassen?

Afghanistan in humanitärer Krise: Seit Taliban-Machtübernahme wurden direkte internationale Hilfen gestrichen

Ich stehe in Kabul, gleich werde ich meine Bekannte treffen. Die, die mir den Brief geschrieben hat. Sie kann immer, sagt sie mir, sie hat ja keinen Job mehr, ihr Mann sei auch zuhause, auch er hat seinen Job verloren. Nachdem er vier Monate nicht bezahlt wurde. Nach fast einer Woche in Afghanistan habe ich kaum einen getroffen, der in den vergangenen Monaten sein Gehalt ausbezahlt bekommen hat. Das Land schlittert jeden Tag tiefer in eine humanitäre Krise. Afghanistans Haushalt wird größtenteils aus dem Ausland finanziert. Seit Jahrzehnten.

Seit die Taliban* im Sommer die Macht übernommen haben, wurden alle direkten Hilfen von den internationalen Geldgebern gestrichen. Washington fror zudem 9,5 Milliarden Dollar ein, die als Devisenreserven der afghanischen Zentralbank in den USA liegen, und belegte das Land mit strengen Finanzsanktionen. Internationale Überweisungen über das SWIFT-System sind nicht mehr möglich. Hilfsprojekte, fast alle, wurden eingestellt. Afghanistan ist kurz davor zahlungsunfähig zu sein. Das Land befindet sich in einer massiven Liquiditätskrise. Der Dollarpreis steigt täglich (aufgrund der übergroßen Nachfrage nach Dollar), dadurch die Preise im Land. Die Afghanen, die Geld auf Konten haben, wollen ihre Ersparnisse vor Inflation retten. Seit dem Sommer gibt es einen Währungsverfall von 20 Prozent. Ich stehe vor einer Bank in Kabul, neben mir stehen Dutzende Menschen, Männer. Sie warten darauf, dass sie ihre Geldanlagen bekommen, ihre eigenen, die auf ihrem Konto liegen.

Vor dem Sommer gab es noch Einzahlungen auf die Banken, von Geldgebern wie den UN, internationalen Botschaften etc., Der Geldkreislauf funktionierte. Doch jetzt fallen die Einzahlungen weg, nur Auszahlungen sind gefragt. Und die Einlagen der Banken schrumpfen Tag für Tag. Im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent. Alle Afghanen, die mit mir vor der Bank stehen, wollen Geld abheben, sie haben Angst, dass es bald überhaupt kein Geld mehr geben wird. Afghanistan ist kein Exportland, es gibt kaum eigene Produktionen, so dass das Land von Importen abhängig ist. Die müssen bezahlt werden. Und die Einnahmen bleiben aus.

Armut in Afghanistan: Banken geben kaum Geld aus – 23 Millionen droht der Hungertod

Ich frage einen älteren Mann, was genau das Problem ist, warum sie hier alle stehen. Er sagt, dass es hier eigentlich besser läuft als bei anderen Banken in Kabul, doch dann wird er übertönt von den umstehenden Männern, die sich über seine Aussage beschweren. Und mir das Gegenteil erzählen. Seit Tagen stehen sie hier, bekommen kein Geld, schon gar keine Dollar ausgezahlt, und wenn, dann nur zu einem enorm schlechten Wechselkurs und dann werden auch noch alte Banknoten ausgegeben.

Afghan Diary: In Afghanistan spricht niemand über Corona – es tobt der Kampf gegen den Hungertod

Wenn ich gestern hier gestanden hätte, sagt mir ein Mann, dann hätte ich gesehen, dass hier noch mehr Menschen vor der Bank versammelt waren, mehr als 200. Alle wollten sie ihr Geld abheben. Ein anderer sagt mir: Ich habe 800.000 Afghani auf meinem Konto, ich konnte bisher nur 200.000 Afghani abheben und dass ich dafür Dollar bekomme, davon kann ich träumen. Und für diese Abhebung von 200.000 Afghani warte ich hier manchmal drei Tage und Nächte, bis ich an die Reihe komme. Und dann sagt er noch, wir stehen hier wie Bettler, die für ihr eigenes Geld betteln müssen. 200.000 Afghani sind umgerechnet knapp 2000 Dollar.

Schon vor der Machtübernahme der Taliban ächzte das Land unter der schwersten Dürre seit Jahrzehnten. Laut UN werden in Afghanistan* bis Ende 2021 97 Prozent in Armut leben. 23 Millionen Menschen drohen zu verhungern, warnen die Vereinten Nationen.

Seit Taliban-Machtübernahme: Armut wird größer – Familien verkaufen in ihrer Not selbst Säuglinge

So viele Zahlen. Zahlen, die schnell in unserem Gedächtnis verschwinden, wenn man das Leid nicht mit eigenen Augen sieht. In Kabul stehen überall Kinder auf der Straße, die Tee verkaufen, Süßigkeiten, versuchen, ein bisschen Geld zu verdienen. Ich treffe Familien, die sich bereits tagelang nichts zu essen kaufen konnten. Fast jede Familie muss ihre Nahrungsaufnahme reduzieren. Brot und Zucker, das ist es, was wir seit Wochen zu uns nehmen, sagt mir eine Frau, die anonym bleiben möchte. Sie darf nicht mehr arbeiten, seit die Taliban an der Macht sind. Auch ihr Mann hat seinen Job verloren, er war im Gesundheitsministerium angestellt.

Eine Bekannte erzählt mir, bis vor kurzem standen immer arme Menschen in Afghanistan vor dem Brotladen und hofften darauf, dass man ihnen umsonst ein Brot zusteckte. Es waren Bettler, jetzt stehen dort auch Lehrer, die mit gesenktem Blick, beschämt, ein Brot nehmen, als Almosen.

Familien die nicht mehr weiter wissen, verkaufen ihre jungen Töchter als Bräute. Mit dem Brautgeld, das die Familie des jungen Mädchens dafür bekommt, versuchen sie zu überleben. Ich habe versucht, eine Familie zu finden, doch die Scham darüber, dass sie ihre Töchter verkaufen, ist zu groß. Junge Mädchen als Braut zu verkaufen, ist nicht neu in Afghanistan, es hat auch kulturelle Beweggründe, sagt mir die Frauenrechtlerin Mahbouba Seraj in Kabul, als ich sie darauf anspreche.

Doch neu ist, dass sie jetzt auch ihre Söhne verkaufen und es werden gerade sehr viele junge Mädchen und Jungen verkauft. Das ist ein eindeutiges Zeichen der steigenden Armut. Und nicht nur sie werden verkauft. In den afghanischen Nachrichtenkanälen, auf den sozialen Medien, kursieren immer mehr Nachrichten über Menschen, die aufgrund von Armut ihre Säuglinge verkaufen, für 30.000, 40.000 Afghani. Das ist ungefähr das Einkommen eines halben Jahres.

EU schickt im Dezember 150 Tonnen Hilfsleistungen nach Afghanistan

„Es ist ein Drahtseilakt“, sagt mir Dietmar Köster, SPD-Abgeordneter im Europäischen Parlament und dort seit 2019 im Außenausschuss. „Es ist ein Dilemma, in dem man sich bewegt. Man muss abwägen, was getan werden muss, um die Not der Menschen dort zu lindern. Aber auf der anderen Seite darf es nicht darum gehen, das Taliban-Regime in irgendeiner Weise anzuerkennen. Ein Drittel der Menschen muss den Hungertod fürchten, da kann man nicht einfach die Augen vor verschließen. Auf der anderen Seite haben wir in Afghanistan ein Regime, das von Terroristen getragen wird, die Taliban sind eine terroristische Organisation, mit denen es keine offizielle Anerkennung geben kann. Diese Gradwanderung muss man jetzt ein Stück weit gehen, das ist das Ergebnis einer gescheiterten Politik des Westens gegenüber Afghanistan.“

150 Tonnen Hilfsleistungen hat die EU im Dezember nach Afghanistan geschickt. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Die wirtschaftlichen Kosten und gesellschaftlichen Folgen wären laut einem UN-Bericht kolossal, sollte das afghanische Bankensystem zusammenbrechen. Die Phase nach einem Zusammenbruch würde ewig dauern, um auf dem internationalen Markt wieder Vertrauen aufzubauen. Deshalb muss zumindest ein Teil des kommerziellen Bankensystems geschützt werden, heißt es in dem Bericht weiter.

Wer kann sich noch Kohle in Afghanistan leisten? Die Winter sind in dem Land bitterkalt

Wir fahren an einem Kohleverkäufer vorbei. Ich bitte den Fahrer zu halten. Möchte wissen, wer sich hier noch die Kohle leisten kann. Ich habe gehört und gesehen, dass, um zu heizen, alles verbrannt wird, Plastik, Stoff, einfach alles, was brennt. Sie müssen für Wärme sorgen, in Afghanistan ist es im Winter bitterkalt, ich friere hier jeden Tag und ich habe warme Schuhe an und eine dicke Jacke. Es ist wirklich eiskalt, in der Nacht hat es Minustemperaturen und der Winter hat gerade erst begonnen.

Der Kohleverkäufer erzählt mir gerade, dass der Preis im Vergleich zum vergangenen Jahr um 30 Prozent gestiegen ist, als ein älterer Mann zwei Kohlebriketts kaufen möchte. Ich frage ihn, ob die Preise in die Höhe gestiegen sind. Er bejaht, es sei teurer geworden und er habe kein Geld, sein Sohn sei bei Explosionen ums Leben gekommen. Die Frage, warum die Preise so hoch seien, beantwortet er folgendermaßen: „Gott und die Regierung, nichts unterliegt unserer Kontrolle.“ Auf meine Frage, wie er das Geld für die Kohle verdiene, sagt er mir: „Ich habe seit heute morgen 150 Afghani verdient und hatte noch nicht mal Frühstück.“

Wie sieht seiner Meinung nach die Zukunft Afghanistans mit dem Regierungswechsel aus? „Gott weiß es besser, wir wissen es nicht. Gott weiß es besser“, antwortet er mir.

Bittere Kälte in Afghanistan: Menschen verkaufen Hab und Gut, weil sie nichts mehr zu essen haben

In Afghanistan sitzt man oft im Winter an einem Korsi, einem sehr niedrigen viereckigen Tisch, unter dem geheizt wird, mit Kohle. Die Glut spendet die ganze Nacht Wärme. Doch die Kohle können sich nur noch die wenigsten leisten. Viele stellen Wasser am Nachmittag in die Sonne, so dass es sich ein wenig erwärmt. Das wird dann unter den Korsi gestellt, so dass der Dampf die Menschen wärmt.

Oft wird in nur einem Zimmer die Heizung, wenn es eine gibt, angemacht. Dann versammelt sich die gesamte Familie in diesem einen Zimmer. Den Kühlschrank schalten wir aus, sagt mir eine Frau, die ich zuhause besuche. Während wir in dem einen warmen Zimmer sitzen, sorgt eine elektrische Raumheizung, angeschlossen an den Strom, für die Wärme. Dann gibt es Stromausfall, wie so oft in Afghanistan. Im Winter sogar mehrmals täglich. Bei den wenigen Reichen springen dann Generatoren an, beim Rest der Bevölkerung werden Kerzen rausgeholt. Ist es schon dunkel, geht man früher schlafen.

Überall sehe ich an den Straßenrändern Menschen, die Kochtöpfe, Teppiche, Kleidung verkaufen. Ihr Hab und Gut. Den Mann, der vor Töpfen, Staubsauer und Fön am Straßenrand steht, frage ich, ob die Straßenverkäufe mehr geworden sind. Er bejaht. Warum, möchte ich wissen. Seine Antwort: „Armut“. Was sagen die Menschen, die verkaufen? „Sie sagen, sie haben nichts zu essen, also verkaufen sie ihre Gegenstände“, berichtet der Verkäufer mir.

Corona in Afghanistan? In dem Land spricht niemand über die Pandemie – den Luxus haben sie nicht

Auf Twitter schreibt die Direktorin des US-Think-Tanks Crisis Group: „Der abrupte Abbruch der Hilfe hat verheerende Folgen, weil die USA und andere Geber aus eigenem Interesse Afghanistans außergewöhnliche Hilfsabhängigkeit erleichtert haben. US-Sanktionen, die den Aufstand nicht wie beabsichtigt stoppen konnten, ersticken nun die gesamte afghanische Wirtschaft.“

In Afghanistan spricht niemand über Corona, die Zeit haben sie nicht. Den Luxus haben sie nicht. Denn sie müssen sich darum kümmern, dass ihr Kind morgen nicht stirbt. Und das soll nicht melodramatisch klingen, das ist die Realität im Dezember 2021 in Afghanistan. (Natalie Amiri) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

7 Tage in Afghanistan: Afghan Diary von Natalie Amiri

Uns allen sind die tragischen Bilder der Tage um den 30. August 2021 noch vor Augen, die den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan begleiteten. Tausende Menschen versuchten verzweifelt am Flughafen von Kabul in eines der Flugzeuge gen Westen zu gelangen, um auszureisen. Sie wollten nicht in einem wieder von den Taliban regierten Afghanistan leben. Die Wenigsten hatten das Glück, einen Platz an Bord zu bekommen.

Seitdem regieren die Taliban das zerrissene und verarmte Land, dem nicht wenige Beobachter für diesen Winter eine humanitäre Katastrophe voraussagen. Natalie Amiri, internationale Korrespondentin, hat während ihres jüngsten Recherche-Aufenthaltes für ihr neues Buch (erscheint am 14.03.2022 ) in Afghanistan ein eindrucksvolles Tagebuch geführt. IPPEN.MEDIA veröffentlicht das Tagebuch ihrer Reise in sieben Teilen sowohl online als auch via Print in einigen Titeln wie dem Münchner Merkur oder der Frankfurter Rundschau.

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